Gerettet
Emma ist 79. Sie ist schwer dement. Seit Jahren lebt sie in einem Pflegeheim. Ihre Mann besucht sie täglich. Ihre Tochter und manchmal auch ihre Enkel kommen regelmässig vorbei.
Sie singen, sagen alte Gedichte auf, erzählen. Sitzen einfach eng zusammen und sind sich nah. Es gibt gute Tage. Da erinnert sich Emma noch an viele Dinge. Und es gibt schlechte Tage. Da ist sie total durcheinander.
Aber jetzt hat sie wohl etwas falsch gemacht. Sie bekommt keinen Besuch mehr. Niemand kommt mehr. Emma fühlt sich einsam. Sie weiß nicht, was passiert ist. Ganz allein sitzt sie in ihrem Zimmer. Niemand interessiert sich für sie. Sie sitzt da und starrt vor sich hin. Laufen kann sie seit ihrem Sturz nicht mehr. Sie ist an den Rollstuhl gefesselt.
Sie erinnert sich dunkel, dass manchmal eine Frau da war. Ab und zu auch mit Kindern. Das war immer nett.
Jetzt ist da niemand mehr. Schon so lange. Dass das 10 Wochen lang so war, weiß Emma nicht. Aber sie hat die Hoffnung aufgegeben. Sie will nicht mehr essen. Sie hört auf zu reden. Sie wird immer schwächer.
Und dann auf einmal wird Emma mit ihrem Rollstuhl aus ihrem Zimmer geschoben. Sie sieht, dass sie in einen großen Raum gebracht wird. Dort wird sie mit ihrem Rollstuhl abgestellt.
An einem Tisch in 3 Meter Entfernung sitzt ein Mann. Sie kann sein Gesicht nicht sehen. Er hat sich etwas davorgebunden. Am anderen Ende des Zimmers sitzt eine Frau. Emma ist sich nicht sicher, ob sie die Menschen schon mal gesehen hat.
Der Mann redet anscheinend mit ihr. Sie versteht nicht, was er sagt. Sie sieht nicht mal, ob er lächelt. Sie weiß nicht, was sie hier soll. Sie weiß nicht mal, wo sie hier ist. Es ist alles unheimlich. Sie sackt in ihrem Rollstuhl zusammen und lässt den Rest der Welt links liegen.
Und dann wird sie wieder in ihr Zimmer gefahren. Und starrt weiter einsam und unglücklich vor sich hin.
Sie ahnt nicht mal, dass ihre Tochter seit Wochen versucht, sie zu besuchen, aber nicht darf. Im Pflegeheim ist nur eine Person zugelassen. Und diese eine Person darf nur für 30 Minuten pro Woche kommen. Der Kontakt findet im Aufenthaltsraum des Pflegeheims statt. Mit einer Plexiglasscheibe und Maske. Und natürlich ohne Berührung. Deshalb befindet sich eine Aufsichtsperson mit im Raum. Die achtet streng darauf, dass die Regeln auch eingehalten werden.
Wir haben Emma vor Corona gerettet.
Verstorben
Karl ist 85 und es geht ihm schon eine ganze Weile nicht mehr so gut. Sein Herz will nicht mehr so recht mitmachen. Er ist im Seniorenheim. Seine Familie wohnt zum Glück ganz in der Nähe. Sohn, Tochter, Enkelkinder und sogar die zwei Urenkel besuchen Karl häufig. Sie wissen alle, dass wohl nicht mehr so viel gemeinsame Zeit bleibt.
Manchmal bringen sie auch ihren Hund mit. Sie gehen zusammen spazieren. Am Rollator schafft Karl das noch ganz gut. Es macht ihm viel Spaß, hält ihn fit und ist das, worauf er sich immer ganz besonders freut.
Aber auch, wenn mal schlechtes Wetter ist. Das Geplapper der Kinder und gemeinsame Spiele oder alte Fotos anschauen ist für Karl das, was das Leben lebenswert macht.
Dann heißt es plötzlich: Besuche verboten. Wegen Corona müssen wir die Alten schützen. Deshalb darf niemand mehr zu Besuch bekommen. Auch das gemeinsame Essen mit den anderen Heimbewohnern fällt aus.
Karl sitzt auf seinem Zimmer. Er hat so ein modernes Handy. Seine Familie meldet sich auch mehrmals täglich bei ihm. Die Kinder haben ihm erklärt, wie das funktioniert. Aber ehrlich gesagt macht das Karl noch trauriger. So gerne würde er seine Lieben umarmen und sie wirklich bei sich haben.
So ein richtiger Besuch ist doch etwas völlig anderes. Karl denkt sich: Wenn die mich nicht besuchen dürfen, kann ich mich doch draußen mit denen treffen. Er hat keine Angst, sich anzustecken. Ihm bleibt sowieso nicht mehr viel Zeit.
Da ist ihm wichtiger, seine Familie zu sehen als womöglich ein paar Wochen länger zu leben. Und die scheinen ja außerdem alle sehr gesund zu sein. Keiner hustet oder schnupft.
Aber auch das ist verboten. Zum ersten Mal in seinem Leben verbringt Karl das Osterfest ganz alleine und einsam auf seinem Zimmer. Er weiß nicht, wann er das letzte Mal so traurig war.
Und dann passiert es. Karl merkt, ihm wird schlecht. Und dann weiß er nichts mehr. Als er aufwacht, liegt er in einem fremden Bett in einem ihm unbekannten Raum. Als er ein bisschen mehr zu sich kommt, erkennt er, dass er im Krankenhaus sein muss.
Allerhand Apparaturen stehen um ihn herum und er kann sich nicht bewegen. Er wünscht sich nichts sehnlicher als seine Familie. Denn Karl merkt, dass es zu Ende geht. Er würde sich so gerne verabschieden. Allen nochmal die Hand drücken. Ihnen versichern, dass es gut ist, wie es ist. Dass er ein erfülltes Leben hatte und jetzt am Ende angekommen ist.
Als eine Krankenschwester kommt, fragt Karl nach seiner Tochter. Die Krankenschwester erklärt ihm, dass Besuche nicht erlaubt sind und seine Tochter leider nicht zu ihm kommen kann.
Karl stirbt in dieser Nacht an Herzversagen. Leider darf auch die Beisetzung nur mit 5 Angehörigen stattfinden.
Leben
Martha (70) und Heinz (75) wohnen mit ihrem Dackel Asterix in einem kleinen Dorf in ihrem eigenen Häuschen. Sie sind beide noch ziemlich fit. Jeden Tag laufen sie mindestens zwei Runden mit Asterix. Und in ihrem Garten bauen sie noch ein bisschen Gemüse an.
Sie sind trotzdem froh, dass ihr Sohn Michael mit seiner Familie nur eine Straße weiter wohnt und sie bei anstrengenden Arbeiten unterstützt.
Und natürlich freuen sich Martha und Heinz immer besonders, wenn die Enkelkinder kommen. Nicole(13) und Andreas(12) sind ja schon ganz schön erwachsen geworden. Und haben immer weniger Zeit für Oma und Opa. Aber der kleine Nachzügler der Familie Sebastian ist gerade 4 Jahre alt geworden und ihr Ein und Alles.
Martha und Heinz schauen jeden Tag um 20:15 Uhr die Tagesschau. Das machen sie seit sie einen Fernseher haben. Da kamen auf einmal Meldungen zu einem gefährlichen Virus. Und dann wurden auch noch Besuche verboten.
Als Michael anrief und ihnen mitteilte, dass er und seine Familie vorläufig auf den Besuch bei Eltern beziehungsweise Großeltern verzichten, gingen Martha und Heinz auf die Barrikaden.
„Kommt gar nicht in Frage. Wir wollen euch sehen.“
Als sie dann Ostern alle gemeinsamen beim Essen saßen, fragte Michael seine Eltern:
„Sagt mal, ihr schaut doch jeden Tag die Tagesschau?“
„Ja!“ war die Antwort.
„Und Mama hat mir erzählt, ihr hört jeden Tag den Podcast von Dr. Drosten. Stimmt das?“
„Ja!“
„Da wisst ihr doch auch, dass gerade ein gefährliches Virus im Umlauf ist?“
„Ja!“
„Habt ihr denn dann keine Angst, wenn wir euch besuchen kommen? Habt ihr keine Angst, dass wir euch anstecken?“
Daraufhin sagte Martha: „Weißt du Michael. Wir wissen das alles mit dem Virus. Aber wir haben so ein schönes Leben gehabt. Wir hatten allerhand Schwierigkeiten zu überwinden. Wir haben es immer geschafft, uns selber zu schützen und vernünftig zu handeln. Und uns ist es wichtiger, euch zu sehen als hier zu sitzen und Angst vor einem Virus zu haben. Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt. Und dann nutzen wir sie doch lieber mit euch zusammen. Wenn wir wirklich krank werden, heißt das ja auch nicht, dass wir daran gleich sterben. Und wir können jeden Tag irgendeine Krankheit bekommen. Deshalb freuen wir uns über jeden Besuch. Und haben keine Angst.“
Michael nimmt seine Mutter ganz fest in die Arme. Und dann genießen sie den Rest des Tages mit Eiersuche und ganz viel Spiel und Spaß.
Claudia Hußmann
Liebe Claudia,
Corona ist schlimm und es ist ist schlimm, dass so viele Menschen deshalb gestorben sind. Aber noch schlimmer finde ich die Vereinsamung, die die Abstands-Massnahmen und Besuchsverbote mit sich gebracht haben. Martha und Heinz haben es goldrichtig gemacht.
Meine Schwiegermutter (95) war bettlägrig und hatte eine Betreuerin. Meine beiden Schwägerinnen gingen wegen Corona nicht mehr hin und haben den Kontakt nur noch über Video-telefon gehalten aus Angst vor gegenseitiger Ansteckung. Anfang Mai verstarb die Schwiegermutter und heute machen ihre Töchter sich Vorwürfe, sie in ihren letzten Tagen nicht mehr gesehen zu haben.
Ich bin gegen die totale Isolation, weil auch Einsamkeit krank macht.
Ich denke, im Alter ist die Lebensqualität enorm wichtig, lieber ein Jahr weniger, aber glücklich leben als ein Jahr mehr und mutterseelen allein .
Liebe Grüsse
Bleib gesund
Renate
liebe claudia, danke für diese geschichten! es zeigt wieder einmal mehr, dass vereinsamung schlimmer ist als ein virus! menschen, welche die massnahmen gegen corona nicht mehr aufnehmen können, verstehen ihre aufgezwungene isolation nicht und gehen daran zugrunde, nicht an diesem virus. ich finde das so tragisch!
hab noch eine gute zeit und geniess das leben mit deinen hunden! danke für deine anregungen und tips! alles luebe, jeannette
Liebe Claudia, deine Geschichten haben mich sehr berührt..Leider ist das Realität und ich hoffe u wünsche mir, dass dieses bald ein Ende hat.
Danke für deine Gedanken, die du ganz wundervoll aufschriebst und dass wir daran teil haben durften..
Alles Liebe